Geisteswissenschaften gelten
Wie steht es aber mit Philosophie, Jurisprudenz oder Mathematik? Geisteswissenschaften beschäftigen sich ihrem Namen zufolge mit dem menschlichen Geist und seinen Produkten. Philosophie richtet sich aber nicht nur auf anthropogene Gegenstände, und Mathematik findet Zahlen zwar auch, aber nicht nur in der Natur, kann also zumindest keine Naturwissenschaft sein. Jurisprudenz hat aufgrund der allgemeinen Verbindlichkeit der von ihr untersuchten Gesetze zumindest einen Sonderstatus unter den Geisteswissenschaften. Ein historisches Fachbuch oder ein germanistischer Aufsatz macht außer seinen Autor und seinen Verlag niemanden satt, stößt in der Regel bestens innerhalb des elitären, sehr kleinen Kreises der Insider auf Interesse und macht das Leben der großen Mehrheit der Bevölkerung gewissermaßen nicht besser. Wozu dann jedes Jahr Millionen dafür ausgeben?
Die Frage ließe sich freilich auf andere Disziplinen ausdehnen: Warum werden jedes Jahr weltweit Milliarden Euro für die Weltraumforschung ausgegeben, obwohl wir auf der Erde schon genug Probleme, aber zu wenig Geld für deren Lösung haben? Weshalb finanzieren Staaten an Universitäten die Entwicklung und Verbesserung von Waffen, die keine Vorteile, sondern nur den Tod bringen? In der griechischen Antike wurde Literaturwissenschaft (Philologie) betrieben, weil sich mit ihr einerseits die eigene Sprache pflegen und vermitteln ließ, und andererseits schriftstellerische (nicht nur literarische) Werke einfach als Kulturgut angesehen wurden, die es zu bewahren galt und auf die man stolz war. Doch um sie zu bewahren, musste man sie auch verstehen, ebenso wie zu entscheiden war, welche Werke in Zeiten knapper und teurer Beschreibstoffe überhaupt würdig waren, der Nachwelt erhalten zu werden.
Die große Zeit der Geisteswissenschaften begann im 19. Jahrhundert, als die Wirtschaft dank der Industrialisierung allmählich stark zu wachsen begann und genügend Geld vorhanden war, um fremde Kulturen zu erforschen und überhaupt nicht selten um ferne Länder zu kolonialisieren und ihre Bevölkerung auszubeuten. Schon damals waren übrigens einzelne Disziplinen von reichen Finanziers extrem abhängig, man denke an den Kaufmann Heinrich Schliemann und seine dilettantischen Ausgrabungen im östlichen Mittelmeerraum. Bezeichnungen wie „Orientalistik“, die sich von der veralteten und unpräzisen Vorstellung eines „Orients“ herleitet, weisen noch in diese Zeit zurück. Doch aus eben dieser Tradition heraus gibt es Institute für Orientalistik noch immer bis heute betrieben. Wer nimmt es sei eine hinfällige Tradition an, kann auf den historischen Fortschritt verweisen, die universitären Fächer im Laufe der Zeit verschwinden .
Offensichtlich lässt sich aber für jedes geisteswissenschaftliche Fach ein konkreter Nutzen angeben: Finno-Ugristik, Tibetologie u.s.w. erhöhen unser Wissen um die Kultur der jeweiligen Völker. Germanistik und Anglistik z.B. begründen die Genialität großer literarischer Werke und f lebhaft vor Augen führen , was gute Literatur an sich ausmacht. Eine Welt ohne Geisteswissenschaften wäre wie eine Welt ohne (Hoch-)Kultur, d.h. ohne verfeinerte literarische Werke, ohne bildende Kunst, ernste Musik oder Autorenfilme: dieser Welt würde das spezifisch Menschliche fehlen, also alles, was uns von Tieren und Computern unterscheidet. Prof. Umberto Eco hat vor seinem Tod ein Appell zugunsten des Klassischen Gymnasiums veröffentlicht und sagte daβ die Studenten die eine These über formalen Logik, klassische Philologie oder Philosophie gemacht haben, eine passendere Geist zur Mensch-Computer-Interaktion haben.