Das poetische Geheimnis der Tempeltänzerin
Ihre Einweihung erfolgte nach den Weisheitslehren antiker Mysterien-Tempel. Tanz an heiligen Orten und in der Natur gehörten zum täglichen Ritual. Wo Tempeltänzerinnen in Erscheinung traten, reisten Pilger an, um ihre getanzten Botschaften zu empfangen. Um das Bewusstsein für spirituelle Dimensionen zu sensibilisieren, wurden adäquate Liebhaber achtsam ausgewählt. Vollendet wird die Weihung mit der „Heiligen Hochzeit“, der Vereinigung mit dem kosmischen Zwilling. Die erste Begegnung wurde astronomisch berechnet und das Liebesspiel, um das kosmische Band zu schmieden, dauert Jahre. Danach reist das Liebespaar - dem Mythos zufolge - durch das große Arkan ins Licht. In der tantrischen Liebeskunst wird die kosmische Verbundenheit der Liebenden angestrebt, um zum göttlichen Ursprung zurückzukehren.
Tempeltänzerinnen verfügten über Eigentum, durften lehren und Kinder adoptieren. „Bei Hofe waren sie der Diamant in der Krone des Königs.“ (Devadasis in Indien, Dorothea Suter) Als das System zusammenbrach, konnte die Jahrtausende alte Tanzkunst bewahrt werden. Tempeltänzerinnen gerieten in den Ruf, Prostituierte zu sein, bevor sie als virtuose Künstlerinnen anerkannt wurden. Aktiv in der Friedensarbeit und solidarisch mit der universalen Bevölkerung inspirieren zeitgenössische Tempeltänzerinnen globale Entwicklungen. Die Balinesin Ida Ayu Agung Mas, genannt Dayu, geboren in einer Priesterfamilie, wurde zur Tempeltänzerin ausgebildet und machte Abitur in einer katholischen Klosterschule. In einfühlsamer Balance errichtete sie nach Kriterien des sozialverantwortlichen Tourismus das Ressort SUN Bali und zog 2004 als erste Senatorin Balis ins Parlament von Jakarta ein. (Tempeltänzerin und Senatorin, Monika Endres-Stamm)
Der klassische Tempeltanz war ein religiöser Akt. Im geheimnisvollen Indien wurde die Liebeskunst „Kamasutra“erforscht und im Tempel-Reich „Shivanganga“ Aufzeichnungen über die innige Verbundenheit von Shiva, dem kosmischen Tänzer, mit seiner himmlischen Gefährtin Shakti bewahrt. Prosaische Aufzeichnungen über Bajaderen entspringen der literarischen Phantasie über geheimnisvolle Tänzerinnen. Goethes Ballade „Der Gott und die Bajadere“ nannte Brecht eine sozialkritische Sonatedie sich gegen formelle Macht- und Besitzverhältnisse in der Ehe wendet und die freie Vereinigung von Liebenden als etwas Göttliches beschreibt. In dem Grand Ballett „La Bayadere“ von Marius Petipa verlieben sich unter der Schirmherrschaft des goldenen Gottes die indische Tempeltänzerin Nikia und der edle Krieger Solor unsterblich ineinander. Als Nikia kostbare (Bestechungs)-Geschenke ihrer Rivalin Gamsatti, der Solar ehelich versprochen ward, ausschlägt, wird ihr nach einer Tanzdarbietung ein Blumenkorb mit einer verborgenen Giftschlange überreicht.
Solor begibt sich mit der Wasserpfeife im Opium-Rausch ins „Königreich der Schatten“. In seinen Träumen und im Übergang zur Wirklichkeit erscheint ihm Nikia im Braut-Schleier als heiliges Versprechen einer ewigen Liebe. Dieses nach apollonischen Prinzipien gestaltete symphonische Ballet-Blanc, der virtuose Tanz der verhüllten Nikia mit ihren himmlischen Gefährtinnen in ihrer ätherischen Schönheit, wurde zur Legende. Die Uraufführung war 1877 in St. Petersburg, choreographiert vom Großmeisters der klassischen Ballett-Komposition Marius Petipa. Als Auftakt der restaurierten Staatsoper unter den Linden (www.staatsbalett berlin.de) hat der russischen Ballett-Choreograph Alexei Ratmansky, mehrfach ausgezeichnet mit der goldenen Maske, nach elfjähriger Auseinandersetzung mit den überlieferten Notationen von Petipa das sinnliche Liebesdrama vor der Szenerie eines märchenhaften Indien exzellent inszeniert. „Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind Bajaderen stets ein poetisches Geheimnis geblieben wie die orientalischen Schönheiten aus Mohammeds Paradies.“ (Thèophille Gautier)