Corona – wieviel Krise erträgt die Gesellschaft?
Oder werden diese vom Kollektiv in den Hintergrund gerückt? Zu diesem spannenden Thema durfte ich einen Experten interviewen. Herr Prof. Dr. med. Stefan Büchi, ärztlicher Direktor der Klinik Hohenegg, war bereit, mit mir über seine Erfahrungen als Klinikleiter zu sprechen. Erstaunlicherweise wurden während des Lockdowns im Kanton Zürich viel weniger psychisch erkrankte Patienten klinisch sowie ambulant behandelt, als vor der Krise. Woran könnte das liegen? Sicherlich ist ein ausschlaggebender Faktor die Sorge gewesen, überhaupt einen Arzt aufzusuchen. Egal, welches Leiden man hatte, wenn es nicht lebensbedrohend war, blieb man den Praxen und Kliniken lieber fern.
Aber ist es wirklich nur die Angst vor einer möglichen Ansteckung gewesen, oder ist der Grund dafür woanders zu suchen? Wenn wir ein bisschen in der Geschichte zurückblicken, stossen wir immer wieder auf schreckliche Ereignisse, die wir, respektive unsere Vorfahren, überstanden haben. Der Körper und die Psyche eines Jeden, hält in Notsituationen doch immer wieder Erstaunliches für uns bereit. Es entwickeln sich Kräfte, die man nie für möglich hielt. Könnte es sein, dass wir genau in so einer Notsituation, wie der Corona-Krise, automatisch in ein Bewusstsein wechseln, welches die bisher sehr prominenten «Alltags»-Probleme in den Hintergrund schiebt?
Sind auch schwerwiegende Sorgen im Kollektiv besser zu ertragen? Die Erfahrungen sowie die Statistik sprechen eindeutig dafür. Nehmen wir zum Beispiel den Konkurs eines Unternehmens: Unter normalen Umständen, würde man der Geschäftsführung sicherlich persönliches Versagen nachsagen. Geht aber krisenbedingt ein Unternehmen in den Konkurs, so zeigt die Gesellschaft und vor Allem das private Umfeld, Verständnis. Die Schmach des Versagens ist anscheinend erträglicher. Ich möchte hier aber unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, dass ein Konkurs eine Lappalie wäre, es ist tragisch genug, dass die Wirtschaft so massiv in Mitleidenschaft gezogen wurde und immer noch wird. Vielmehr möchte ich aufzeigen, welchen enormen Einfluss die Gesellschaft auf den Einzelnen haben kann.
War es nicht so, dass wir uns alle von den Vorgaben der Gesellschaft haben mitreissen lassen? Ja, sogar verpflichtet gefühlt haben, den oktroyierten Lifestyle aus der Medienwelt als Standard anzunehmen? Lebten wir bereits in einer Welt der Überforderung? Herr Prof. Dr. Büchi hat diese Situation wunderbar beschrieben: «Motion unterdrückt Emotion» - «Je mehr ich mich bewege, desto weniger spüre ich» «Die Reisewut der Privilegierten, zum Beispiel, half, unangenehme Gefühle zu unterdrücken». Haben wir gelernt, vor unseren Gefühlen davonzulaufen? Ich glaube, wir alle haben unseren Alltag schon einmal als Hamsterrad empfunden und Mühe gehabt, der sich immer grösser werdenden Geschwindigkeit anzupassen.
Durch die Zwangsentschleunigung während der Corona-Krise, haben wir alle an Geschwindigkeit verloren. Die Gesellschaft hat eine Vollbremsung erfahren müssen. Aus «zu viel» wurde «zu wenig». Es gibt Dinge, die von uns vorher als absolut notwendig, vielleicht sogar als lebenswichtig empfunden wurden und uns nun grösstenteils belanglos vorkommen. Die Reise- und Freizeitkultur hat sich abrupt geändert. Ferien in fernen Ländern sind bei der Urlaubsplanung in den Hintergrund gerückt. Wir haben festgestellt, dass Europa und vor Allem das direkte Umfeld, mannigfache Erholungsmöglichkeiten bietet. Natürlich spielt bei dieser Entwicklung auch der allenfalls geringer gewordene Geldbeutel ein grosse Rolle.
Die wirtschaftlichen Folgen der Krise werden wir noch eine lange Zeit spüren. Die gesellschaftlichen Folgen sind ebenso präsent und zeigen sich schon verstärkt im Alltag. Aber was haben wir aus dieser Krise lernen können? Haben wir einmal mehr in der Geschichte der Menschheit erfahren, dass gemeinsames Leid den Einzelnen stärken kann? Bewahrheitet sich das alte Sprichwort: «Geteiltes Leid ist halbes Leid»? Uns steht in jeder Hinsicht eine spannende Zeit bevor. Die Zukunft wird zeigen, was wir aus dieser schlimmen Zeit lernen konnten. Hoffen wir, dass wir unseren Mitmenschen weiterhin mit Respekt und Verständnis begegnen und sich die negativen Auswirkungen dennoch in Grenzen halten.