Die Himmelsscheibe von Nebra – die andere Wahrheit
Zum Medienereignis und Sensationsfund wurde sie erst nach ihrer Beschlagnahme 2002 hochstilisiert. Besonders in der ersten Zeit war die Scheibe in den Medien omnipräsent. Gerichtsakten, Gutachten, Dokumentationen, Berichte und Ortstermine, mehr oder weniger ausführliche Artikel in Fachzeitschriften und Boulevardpresse, in Interviews mit den zuständigen Archäologen, etlichen Büchern und Deutungsversuchen-eigentlich müsste die Geschichte um die Auffindung der Himmelsscheibe bis ins Kleinste bekannt, dokumentiert und ausgewertet sein und keinen Raum für Spekulationen mehr lassen – dachte ich zumindest, bis mir 2018 ein unscheinbares, dünnes Büchlein aus dem Anonymus-Verlag in die Hände fiel. „Der Sensationsfund von Nebra. Eine anhaltinische Schatzgräberlegende. Fiktiver Bericht“, von Mario Renner.
Einige Leser werden sich fragen, wer denn dieser Mario Renner überhaupt sein soll. In der Medienlandschaft ist ja die Scheibe untrennbar mit dem Entdecker Harald Meller verbunden, dem Landesarchäologen von Sachsen-Anhalt, welchem der Coup gelang, das unschätzbare Kulturgut den Händen der finsteren Raubgräber zu entreißen und der staunenden Öffentlichkeit zu präsentieren. Mario Renner ist einer dieser in den Medien zumeist namenlosen Raubgräber, einer der beiden Finder der Scheibe. Genauer gesagt ist der eigentliche Finder ein gewisser Henry Westphal, dessen Metalldetektor über der Scheibe ausschlug und so die ganze Geschichte ins Rollen brachte. Im erwähnten Büchlein schildert nun der zweite Schatzsucher, Mario Renner, in Form einer fiktiven Erzählung die Fundumstände aus seiner Sicht.
Die Geschichte muss fiktiv sein, weicht sie doch in vielen Punkten von der allseits bekannten offiziellen Lesart ab, deren Stimmigkeit ja schließlich per Gerichtsurteil zementiert wurde. Doch was wäre, wenn man, völlig ergebnisoffen und rein spekulativ, versteht sich, die Version von Mario Renner mit den unzweifelhaft belegten Fakten in einen Kontext setzen würde? Und noch schlimmer, wenn diese, seine Version der Geschichte, dabei sogar einen nachvollziehbaren Sinn ergäbe? Bei mir schrillten nach dem Lesen jedenfalls sämtliche Alarmglocken. Ein Deja-Vu flackerte auf. Gab es in den deutschen Medien nicht schon einmal eine solchen Fall, wo sich ein bekannter Journalist übereifrig in eine Sache verstiegen hatte? Mit irgendwelchen Tagebüchern einer der finstersten Gestalten der jüngeren Zeitgeschichte , die sich letztlich als plumpe Fälschung erwiesen und den Ruf des blauäugigen Kollegen und seines Nachrichtenmagazins nachhaltig beschädigten?
Nun, mit sauberer Recherche auch unscheinbarster Details sollte das nicht passieren. Im Gegenteil, was wäre, wenn sich hier die Möglichkeit bot, ein scheinbar festgefügtes Konstrukt zu hinterfragen, ins Schwanken zu bringen? Wäre es Blasphemie, die offizielle Geschichtsschreibung der „Guten“ in diesem anzuzweifeln? Wie Voltaire sagt: Geschichte ist die Summe der Lügen, auf die man sich geeinigt hat. Datum des Auffindens. In den offiziellen Unterlagen und Gerichtsakten geistern gleich drei verschiedene Daten herum, es stehen, je nach Quelle, ziemlich oft der 04. Juli, seltener der 04. August oder, nur wenige Male, der 04.September zur Auswahl. Ja, was denn nun? In den Protokollen und ebenso in Mario Renners Büchlein die übereinstimmende Aussage, dass einen Tag nach dem Auffinden im Fernsehen ein Formel-1-Rennen lief. Dummerweise fanden 1999 die Formel-1-Rennen im fraglichen Zeitraum an keinem Fünften des Monats.
Die Rennen fanden an folgenden Terminen statt: am 11.07. in Silverstone, am 01.08. in Hockenheim, am 15.08. in Budapest, 29.08. in Spa und am 12.09. in Monza. Es ist aber interessant, dass bisher offensichtlich noch niemandem diese Datumsdiskrepanz aufgefallen ist. Was jedoch wieder für eine der drei Datumsangaben spricht, ist, dass der 04. September 1999 wirklich ein Samstag war. Fundort der Himmelsscheibe. In den ersten Aktennotizen ist keineswegs von Nebra die Rede, vielmehr wird anfangs vom „Schatzfund von Sangerhausen“ berichtet. Und auch das Magazin Focus schreibt in seiner Ausgabe 9/2002 von einem Burgwall an den Hängen des Kyffhäusers bei Sangerhausen als möglichem Fundort.
Auch der erste Hehler, welcher die Scheibe den beiden Schatzsuchern für 31.000 DM abkaufte, gab vor Gericht den Fundort Bäumelburg zu Protokoll. Die Bäumelburg ist ein Burghügel nordwestlich von Sangerhausen. Der heutige, amtlich bestätigte, Fundort Mittelberg bei Nebra kommt erst viel später ins Spiel. Angeblich fiel der Name das erste Mal bei einem Gespräch des Hehlers mit seinen Anwälten. Bei den ersten Vernehmungen schwiegen sie sich über den Fundort aus. Erst später, im zweiten Prozess bestätigte Henry Westphal den Mittelberg als Fundort. Fundumstände. Laut der gerichtlich vereidigten Aussage der beiden Finder stand befand sich die Scheibe in einer aufrechten Position im Boden, der obere Rand knapp 5 cm von der Erdoberfläche entfernt und nur dünn von einer Laub- und Humusschicht bedeckt.
Dagegen spricht die praktisch homogene Farbe und Struktur der Patina auf der Scheibe. Bedingt durch die unterschiedliche Tiefe und den Humus am oberen Rand müsste es deutliche Unterschiede in der Patinierung von oberer und unterer Hälfte geben. Dafür gibt es drei wissenschaftliche Erklärungen. Erstens, die Scheibe lag ursprünglich tiefer, und erst in jüngerer Zeit wurde der Boden darüber bis fast auf Scheibenniveau abgetragen. Dem widerspricht die einhellige Aussage der Finder, dass das Gelände an dieser Stelle keinerlei Unregelmäßigkeiten wie beispielsweise eine Senke aufwies. Zweitens, die Scheibe wurde erst kürzlich an ihrem Fundort verborgen. Auch dafür wurden keine weiteren Indizien gefunden, es widerspricht sich auch mit der Hortfund-Geschichte, nach welcher die Armreifen, Schwerter und Beile im selben Grabungsloch gefunden wurden. Die dritte Variante: die Stelle auf dem Mittelberg bei Nebra ist nicht der Fundort der Himmelsscheibe.
In den meisten Publikationen zum Thema Himmelsscheibe wird von einem Hortfund gesprochen. In diesem Fall meint man den Fundkomplex von Nebra. Zu diesem gehören: die Himmelsscheibe, zwei Armspiralen, zwei Randleistenbeile, ein Meisel und zwei Schwerter. Laut den offiziellen Publikationen handelt es sich um Gegenstände, die zusammen mit der Himmelsscheibe in der Grube gefunden wurden. Und dieser Fundzusammenhang ist für die Wissenschaft enorm wichtig, konnte doch nur anhand dieser Beifunden das Alter der Himmelsscheibe bestimmt werden. Für die Himmelsscheibe als Unikat gibt es keine Datierungsmöglichkeiten im Kontext. Ihr Alter konnte also nur indirekt aufgrund des Alters der umgebenden Beifunde bestimmt werden. Oder um es anders auszudrücken, ohne die Beifunde wäre die Scheibe nur ein nettes Kuriosum, welches sich aufgrund fehlender ähnlicher Fundobjekte keiner Epoche zuordnen ließe.
Somit steigt und fällt der Fundkomplex Himmelsscheibe mit der absoluten Datierbarkeit der Beifunde. Die Funde gehören zusammen, so wurde es von Gerichts wegen beschlossen. Doch Mario Renner beharrt in seinen Ausführungen auf seiner Version, dass die Beifunde wie die Schwerter, Äxte und Armreifen von anderen Suchgängen stammten und der „Hortfund“ extra für den Hehler zusammengestellt wurde. Es existiert sogar ein Gutachten, welches diese Behauptung unterstützt. Schon bei der ersten Gerichtsverhandlung wurden ein Beil wegen der nicht stimmigen Erdanhaftungen und ein Randleistenmeißel wegen seiner abweichenden Patina, als nicht zu dem Fund zugehörig erklärt. J. Adam sagt bei der Gerichtsverhandlung, dass eins der Beile definitiv nicht dazugehörig ist, er sagt „Lagerung in anderen Schichten als Scheibe und Schwert“. Auch der Meissel wird per Gutachten als nicht zu dem Rest zugehörig erklärt.